Mittwoch, 31. Januar 2018

Scheitern nach der Sechsten – was Eltern tun können

Für schätzungsweise gut 150.000 Jungen und Mädchen in NRW steht im Sommer der Wechsel auf eine weiterführende Schule an. Für viele Eltern ist es eine Entscheidung, mit der sie sich sehr schwertun. Schließlich wollen sie keine falschen Weichen für die Zukunft ihres Kindes stellen. Sicher, die Grundschulen stehen den Eltern beratend zur Seite, allerdings ist ihre Empfehlung für eine weiterführende Schulform seit nunmehr knapp sieben Jahren nicht mehr bindend. Letztlich entscheidet nun wieder – wie schon vor 2006 – der Elternwille. Allerdings scheinen viele Eltern die Leistungsfähigkeit ihrer Kinder zunehmend falsch einzuschätzen.
Zumindest legt ein Blick auf die Zahlen diese Vermutung nahe. Seitdem die verbindliche Grundschulempfehlung 2010 abgeschafft wurde, stieg der Anteil der Kinder, die nach der 6. Klasse das Gymnasium verlassen müssen, wieder drastisch an. Genau 2773 waren es im Jahr 2016 – das sind immerhin 27 Prozent mehr als fünf Jahre zuvor. Tatsächlich hat sich in den vergangenen sechs Jahren der Anteil der Kinder, die ohne gymnasiale Empfehlung am Gymnasium angemeldet wurden, deutlich erhöht. Waren es im Schuljahr 2010/11 insgesamt gerade mal knapp ein Prozent der Gymnasiasten, die weder eine glatte noch eine eingeschränkte Empfehlung für diese Schulform hatten, waren es im Schuljahr 2016/2017 immerhin 7,3 Prozent. Auch der Anteil der Schüler, die eine eingeschränkte Empfehlung hatten, stieg in dem Zeitraum von 14 auf 16,4 Prozent. Ob es tatsächlich genau diese Schüler sind, die das Gymnasium nach der Klasse 6 wieder verlassen müssen, lässt sich mit Zahlen nicht belegen. „Leider liegt uns hierzu keine Statistik vor, da für die amtlichen Schuldaten keine individuellen Daten erhoben werden“, hieß es auf Anfrage aus dem Schulministerium. Dennoch beobachten Experten die Entwicklung mit Unbehagen – nicht zuletzt auch deshalb, weil hinter den blanken Zahlen immer auch persönliche Versagensgeschichten einzelner Schüler stecken. Das Erleben des Misserfolgs bedeutet für viele Kinder – und deren Eltern – eine besondere Belastung. „Leider haben manche Eltern die Empfehlungen der Grundschulen, die sicher nie gegen, sondern in erster Linie für die Kinder und deren Fähigkeiten getroffen werden, aufgrund eigener schulischer Karrierewünsche für ihre Kinder in den Wind geschlagen und dabei das Wohl ihrer Kinder mit den eigenen Vorstellungen von Schule verwechselt“, urteilt Dieter Cohnen. Einen Grund für den Run auf die Gymnasien sieht der Vorstand der Landeselternschaft der Gymnasien auch in der rot-grünen Schulpolitik in NRW. Einige Schulformen – nicht zuletzt die Realschulen – seien dadurch zu Unrecht gesellschaftlich abgewertet worden, obwohl auch dort engagierte Lehrer arbeiteten, die die Stärken ihrer Schülerinnen und Schüler fördern wollten – und so viele von ihnen auch befähigten, nach der 10. Klasse doch noch das Abitur an einem Gymnasium oder einem Berufskolleg zu machen. Ralf Radke, Vorsitzender der Landeselternschaft der Gesamtschulen, sieht die Ursachen für diese Entwicklung auch im leistungsorientierteren Ansatz des Gymnasiums. Dort sei das Ziel eine homogene Lerngruppe – und dabei werde weniger auf die Förderung beziehungsweise Unterstützung einzelner Kinder geschaut. Nicht so leistungsstarke Kinder fielen da schneller durchs Raster als etwa auf einer Gesamtschule mit ihren bewusst heterogenen Lerngruppen. „An unserer Schule werden auch andere Stärken der Kinder berücksichtigt. Es geht nicht nur um Deutsch, Englisch und Mathe“, sagt auch Rolf Grisard, Leiter der Heinrich-Böll-Gesamtschule in Köln-Chorweiler. Ein anderes Problem sei auch die Verfügbarkeit der Gesamtschulplätze, so Radke. Allein in Köln bekamen im vergangenen Jahr 730 Kinder nicht den gewünschten Platz an einer Gesamtschule – und das, obwohl einzelne Schulen ihre Kapazitäten erhöht haben und mit bis zu acht fünften Klassen gestartet sind. Viele an der Gesamtschule abgelehnte Kinder würden dann schließlich auf ein Gymnasium geschickt – nicht zuletzt auch, weil es flächendeckend gar nicht mehr so viele Realschulen gebe. „Wenn wir damals für unsere Tochter nicht einen Platz an der Gesamtschule bekommen hätten, hätten wir sie auch auf das Gymnasium geschickt. Der Weg zur nächsten Realschule wäre viel zu weit gewesen“, räumt der Elternvertreter ein. Allerdings weiß er auch, dass Eltern, deren Kinder das Gymnasium nach der Erprobungsstufe wieder verlassen müssen, oft ein Problem haben, eine neue Schule zu finden. Immer wieder berichten Eltern gescheiterter Gymnasiasten, dass sie an mehreren Schulen regelrecht Klinkenputzen mussten, bis sie endlich eine neue Schule für ihr Kind gefunden hatten. Wer keine Schule findet, dem wird von der Stadt eine Schule zugewiesen. Ein Problem dabei: Viele Gesamtschulen oder Realschulen in Ballungsräumen wie Köln sind eh schon voll. Zudem, so räumt Landes-Elternvertreter Ralf Radke ein, würden die Gesamtschulen sich nicht darum reißen, die „abgeschulten Kinder“ aufzunehmen und als Auffangbecken für gescheiterte Gymnasiasten zu fungieren. „Diese Kinder haben alle eine eigene Geschichte und eine Versagenserfahrung. Viele müssen regelrecht wiederaufgebaut werden.“ An der Königin-Luise-Schule (KLS) in der Kölner Innenstadt versucht man deshalb, diese Situation möglichst gar nicht erst entstehen zu lassen. „Nichts ist frustrierender, als wenn Kinder durch schlechte Noten jegliche Lernfreude verlieren“, sagt Direktorin Ute Steffens. Deshalb werden schon beim Kennenlerngespräch mit den künftigen Fünftklässlern eventuelle Alternativen ausgelotet, wenn die gymnasiale Eignung in Zweifel steht. Sind die Neu-Gymnasiasten einmal eingeschult, wird in sogenannten Erprobungsstufenkonferenzen gemeinsam mit den ehemaligen Grundschullehrern, die die Kinder ja sehr gut kennen, versucht, eine gute Lösung zu finden, wenn ein Kind sich zunehmend überfordert fühlt. Die Schule pflegt zudem bewusst gute Beziehungen zu Realschulen. „Oft wechseln Kinder auch schon während des Schuljahres, denn der Entschluss, die Schule zu verlassen, kommt nicht aus heiterem Himmel just zum Ende der sechsten Klasse. Das ist ja ein Prozess“, sagt Steffens. An der Realschule erleben die Kinder oft eine Art Erweckungserlebnis: „Viele Schüler leben regelrecht auf, wenn sie endlich gute Noten schreiben“, sagt Martina Frankenberger, Leiterin der Realschule am Rhein. Für einige sei es sicher auch besser, sie müssten nicht die zwei Jahre am Gymnasium verbleiben, so Frankenberger. „In Einzelfällen ist die Frustration dann schon so groß, dass sie erst einmal wieder zu einer positiven Arbeitseinstellung finden müssen.“ Um solche Situationen zu vermeiden, ist es für Annette Greiner vom Verband der Schulpsychologen NRW wichtig, dass Eltern vor ihrer Entscheidung für eine bestimmte Schulform besser aufgeklärt werden. Wichtig sei, dass die Eltern immer das eigene Kind und seine Möglichkeiten im Blick behielten und sie sich bewusst machten, dass das Schulsystem durchlässig sei und der Weg zum Abitur nicht nur über das Gymnasium gehe.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen