Freitag, 7. März 2014

Das Turbo-Abitur steht weiter in der Kritik

Für die neunjährige Katrin scheint alles ganz einfach. "Auf dem Gymnasium ist es schwerer, da werden die Noten schlechter. Aber wenn ich G8 mache, bin ich dafür früher fertig", meint die Frankfurter Viertklässlerin. Wie viele ihrer Mitschüler bekommt sie mit dem Halbjahreszeugnis von ihrer Klassenlehrerin die Empfehlung fürs Gymnasium. Damit beginnt nicht nur in ihrer Familie die Qual der Wahl. Vor allem in den Städten, wo die Auswahl an Schulen groß ist, zerbrechen sich die Eltern die Köpfe. Können und sollen sie ihrem Kind das verdichtete Lernen auf dem Weg zum Abitur zumuten? Die Frage stellt sich nicht zuletzt deswegen, weil viele Bundesländer in Sachen Gymnasialreform wieder ein Stück zurückrudern. 

In Katrins Bundesland Hessen beispielsweise können Gymnasien seit Schuljahresbeginn 2013/2014 zu G9 zurückkehren. In Baden-Württemberg hat das Kultusministerium gerade ein Konzept für einen G9-Schulversuch erarbeitet: Schüler können an 44 Modellschulen wieder das Abitur nach neun statt nach acht Jahren erwerben. "Damit möchten wir der großen Nachfrage der Eltern nach G9 gerecht werden", sagt Ministeriumssprecherin Christine Sattler. Auch die neu gewählte niedersächsische Landesregierung hat den Erwerb des Abiturs an integrierten und kooperativen Gesamtschulen nach 13 Schuljahren wieder ermöglicht. Im benachbarten Schleswig-Holstein bieten 11 von 99 Gymnasien wieder den neunjährigen Bildungsgang an, weitere 4 betreiben G8 und G9 parallel. Selbst ostdeutsche Bundesländer wie Sachsen-Anhalt, die traditionell G8-Länder sind, entwickeln inzwischen zunehmend G9-Alternativen, sagt Karina Kunze aus dem Kultusministerium. So können nun in Sachsen-Anhalt Gesamtschulen zwischen einem Abitur nach 12 oder 13 Jahren wählen, das gleiche gilt für die Gemeinschaftsschulen. 
In Nordrhein-Westfalen wiederum wird G9 an 252 Gesamtschulen, 379 Berufskollegs, 42 Sekundarschulen, 12 Gemeinschaftsschulen und 13 Gymnasien angeboten, G8 an 614 Gymnasien. "Der Großteil der Gymnasien hat sich aber bewusst für die Beibehaltung und Optimierung von G8 entschieden", teilt Schulministeriumssprecherin Eva Stannigel mit. Mit einer besonderen Möglichkeit wartet das Land Bayern auf: Bayerische Gymnasiasten können sich in den Jahrgangsstufen acht bis zehn für ein zusätzliches Schuljahr mit verschiedenen individuellen Förderangeboten oder auch für einen Auslandsaufenthalt entscheiden. Dafür nehmen sie zusätzliche Lernzeit im Rahmen eines sogenannten Flexibilisierungsjahrs in Anspruch. "So erhält jeder junge Mensch die Zeit, die er oder sie für den individuellen Bildungsweg benötigt", erläutert Ines Held vom Bayerischen Kultusministerium. 
Das einzige Land, in dem sich nichts ändert, scheint Rheinland-Pfalz zu sein. Hier gab es die achtjährige Gymnasialausbildung nie flächendeckend. Stattdessen wurde ein Rahmenkonzept für G8-Ganztagsgymnasien entwickelt, für das sich die Schulen einzeln bewerben. "G8-Ganztagsgymnasien werden nur dort genehmigt, wo ein alternatives gymnasiales G9-Angebot erreichbar ist", sagt Ministeriumssprecher Wolf-Jürgen Karle. Wer die Wahl zwischen verschiedenen Schulen mit unterschiedlichen Wegen zum Abitur hat, sollte aber trotz allem nicht nur auf G8 oder G9 blicken, rät die stellvertretende Bundeselternratsvorsitzende Ursula Walther. "Es kommt schließlich immer auf die konkrete Schule an. Welche fachlichen oder pädagogischen Schwerpunkte hat sie? Wie ist die Zusammenarbeit von Schülern, Lehrern und Eltern?" Das lasse sich nicht allein beim Tag der offenen Tür herausfinden, sondern am besten auch durch Gespräche mit Schülern, Lehrern und Elternvertretern. Ähnlich urteilt Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung: "Es gibt viele Kriterien für die Schulwahl - zum Beispiel die speziellen Begabungen, die ein Kind mitbringt oder auch sein Arbeitsverhalten allein und in der Gruppe." Die Frage G8 oder G9 sei nur ein Kriterium. Allerdings gibt er durchaus zu bedenken, dass der verdichtete Stundenplan viele Kinder überfordert. 
Noch weiter geht der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes Josef Kraus: Haben Familien die Wahl, sollten sie sich für G9 entscheiden. Einzige Ausnahme sei, dass das Kind so schnell lernt, dass es sich sonst langweilen würde. Er bedauere, dass Jugendlichen durch G8 viel Zeit für ihre persönliche Reifung, für ehrenamtliches Engagement und Hobbys verloren gegangen sei. Das bekräftigt auch Ilka Hoffmann, Leiterin des Organisationsbereichs Schule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Es sei aber mindestens genau so wichtig, was darüber hinaus in der Schule passiert. "Wie ist das Klima? Gibt es ein schulinternes Förderkonzept? Wie sieht das Unterrichtskonzept aus?" 
Mag sein, dass die kleine Katrin zu den Kindern gehört, die so gern und schnell lernen, dass sie in einem G8-Gymnasium gut aufgehoben ist. Zeit für Hobbys und ehrenamtliches Engagement wird ihr trotzdem fehlen, meint der hessische Landesschülersprecher Armin Alizadeh. "Die Mitarbeit in der Schülervertretung ist durch G8 dramatisch zurückgegangen - die Schüler haben keine Zeit mehr dafür." Auch Sport, Musik und viele andere Hobbys kämen mit G8 zu kurz. "Bildung braucht Zeit. Wer die Wahl hat, sollte sich deshalb immer für G9 entscheiden", sagt Alizadeh. 

Quelle: Kölnische Rundschau vom 07.03.2014

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