Mittwoch, 9. Oktober 2013

Wirtschaft top - Bildung Flop?

BERLIN. Erwachsene in Deutschland können im internationalen Vergleich nur mittelmäßig lesen und Texte verstehen. Gleiches gilt für die Grundrechenarten wie Prozentrechnen und Dreisatz.

Fast auf den Tag genau vor 40 Jahren erschien ein kleines Büchlein. Titel: "Wirtschaftsriese - Bildungszwerg". Es war die kritische Analyse eines damaligen OECD-Bildungsreports über Deutschland. 1973 scheiterte im föderalen Wirrwarr der Bundesrepublik der Versuch, einen gemeinsamen Bund-Länder-Plan für den Ausbau des deutschen Bildungssystems zu entwickeln.
Auch heute gilt die deutsche Wirtschaftskraft weltweit als vorbildlich. Politik, Wirtschaft und auch die Gewerkschaften preisen das duale System der Berufsausbildung mit seinem Zusammenspiel von Betrieb und staatlicher Berufsschule als beispielgebend. Einige sehen es gar als "deutschen Exportschlager", den sie auch in Spanien oder Italien etablieren möchten.
Doch mit der Allgemeinbildung und den Basiskompetenzen der Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren ist es in Deutschland gar nicht so gut bestellt - wie mancher Politiker gestern nach Veröffentlichung des ersten Pisa-Tests für Erwachsene glauben machen wollte. Es sind eben nicht nur die 17,5 Prozent der Erwachsenen, die nur auf dem Niveau Zehnjähriger lesen und Texte verstehen können.
Zwar zieht eine solch große Problemgruppe den deutschen Leistungsschnitt im weltweiten Vergleich kräftig nach unten. Aber ebenso fehlt es in dem ehemaligen "Land der Dichter und Denker" heute an Spitzenlesern in den oberen Leistungsgruppen.
Und in Sachen "alltagsmathematische Kompetenz" kommen die Bundesbürger aus dem Heimatland von Rechenkünstler Adam Riese mit ihren Gesamtleistungen auch nur knapp ins internationale Mittelfeld. 18,5 Prozent der Testpersonen in Deutschland schaffen laut OECD-Bericht häufig nicht mehr als nur einfaches Zählen und Sortieren. Schwacher deutscher Trost: Im Schnitt der anderen Industrienationen sind dies auch nur 19 Prozent.
Anfang der 1970er Jahre waren die Kultusminister der damals noch elf Bundesländer die ständige internationale Kritik am deutschen Bildungssystem leid und klinkten sich bei den OECD-Studien wie auch anderen weltweiten Untersuchungen einfach aus. Erst seit Ende der 1990er Jahre stellt sich die deutsche Bildung wieder den internationalen Vergleichen. Die erste Pisa-Schulstudie, die 2001 von der OECD veröffentlicht wurde, löste in Deutschland wegen der offenkundig gewordenen Leistungsschwächen der 15-Jährigen bekanntlich einen Schock aus. Zahlreiche Schulreformen waren die Folge. Nur langsam geht es aufwärts - aber immerhin.
Es ist vor allem der harte Kern der Leistungsschwächsten, der den Bildungspolitikern große Sorge macht. Zwar ist die Zahl der Schulabbrecher zurückgegangen - mit knapp 60 000 jungen Menschen pro Jahr aber immerhin noch ein beträchtlicher Teil. 2,2 Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und 35 Jahren haben keinen Berufsabschluss und sind auch nicht mehr in Fort- oder Weiterbildung.
Arbeitsstaatssekretär Gerd Hoofe verwies bei der Präsentation der OECD-Studie darauf, dass jeder zweite Arbeitslose keinen Berufsabschluss hat. Das aktuelle Programm der Bundesagentur, mit dem jetzt 100 000 junge Menschen nachqualifiziert werden sollen, erscheint angesichts der großen Zahl von Ungelernten eher wie ein Tropfen auf den heißen Stein.
Doch wie will man diese Problemfälle erreichen? Lesen und Textverständnis gelten in der Pädagogik als die wichtigste Schlüsselqualifikationen für das Lernen überhaupt - nicht nur für die Erstausbildung, sondern auch für die spätere Weiterbildung. Bei den 15-Jährigen ist diese harte Problemgruppe zwischen dem ersten Pisa-Test (Veröffentlichung 2001) und dem jüngsten (2009) von knapp 25 auf knapp 20 Prozent zurückgegangen. Der nächste Pisa-Schultest wird am 3. Dezember vorgelegt.
Eindringlich plädieren die Pisa-Forscher dafür, die Weiterbildung für die Problemgruppen der jugendlichen wie erwachsenen Schwachleser zu öffnen. Denn Weiterbildungsangebote werden in Deutschland wie auch anderswo vornehmlich von den Gruppen genutzt, die ohnehin schon eine gute oder gar beste Vorbildung besitzen. Häufig erfahren Schwachleser gar nicht von den Möglichkeiten, die Volkshochschulen oder andere Institutionen anbieten. Die Zahl der "funktionalen Analphabeten" wird in Deutschland auf 7,5 Millionen geschätzt. Der alte Grundsatz "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" soll nach diesen Forderungen endlich durchbrochen werden.

Was Erwachsene beim Bildungstest wissen müssen
Der komplette Fragenkatalog soll zum Selbsttest ab Frühjahr 2014 im Internet verfügbar sein
Für das Leben gerüstet? OECD-Bildungsforscher haben einen riesigen Aufgabenpool entwickelt, um die Grundkompetenzen von 16- bis 65-Jährigen in 24 Industrienationen der Welt zu testen. Für die Kerndisziplinen "Lesen und Textverständnis", "alltagsmathematische Grundkenntnisse" und "Problemlösen mit Hilfe des Computers" gibt es Aufgaben in verschiedenen Niveaustufen. Der komplette Pool wird zum Selbsttest erst ab Frühjahr 2014 im Internet verfügbar sein. Dann kann man auch anhand seiner erreichten Punktzahl ablesen, welchen Durchschnittslohn man mit seinen Kenntnissen in einem anderen OECD-Land erzielen würde. Beispielaufgaben: 

Lesen/Textverständnis: Gezeigt wird auf dem Computer die Hausordnung eines Kindergartens. Regel Nummer eins lautet, dass die Kinder bis 10 Uhr zu bringen sind. Dann folgen acht weitere Vorschriften. Zum Schluss wird gefragt: Bis wann sind die Kinder morgens zu bringen? Ein Zurückklicken auf die erste Regel ist möglich.
Niveau: mittel bis leicht. 

Mathematik: Ein Thermometer zeigt die Temperatur sowohl in Grad Celsius als auch in Fahrenheit an. Der Betrachter wird zunächst gefragt, wie viel Grad in Fahrenheit auf dem Thermometer abzulesen sind.
Niveau: Mittel. 

Anschließend folgt die Frage: "Wenn die angezeigte Temperatur um 30 Grad Celsius sinkt, was ist dann die Temperatur in Grad Celsius?"
Niveau: mittel.

Oder: "Im Jahr 2005 legte die schwedische Regierung den letzten Atomreaktor (...) still. Der Reaktor erzeugte pro Jahr eine durchschnittliche Energiemenge von 3572 GWh elektrischer Energie. In Schweden werden weiterhin Windparks mit Windkraftanlagen im Meer errichtet. Jede Windkraftanlage erzeugt rund 6000 MWh elektrische Energie pro Jahr. Wie viele Windkraftanlagen werden gebraucht, um den vom Atomreaktor erzeugten Strom zu ersetzen?" Zur Hilfe wurden der Aufgabe Umrechnungsdaten angefügt.
Niveau: schwierig. (Richtige Antwort: 595, 596 oder 600 - gerundet)

Computer/Internet: Neben einfachen Grundkenntnissen wie dem Einordnen von E-Mails in verschiedene Postfächer oder der Benutzung von Hilfsmitteln (Maus) wurde das Navigieren über Webseiten und eigenständiges Problemlösen und Recherchieren getestet.
Beispiel: "Sie suchen einen Job und haben dazu fünf Internetseiten gefunden. Sie möchten eine Seite nutzen, bei der Sie sich nicht anmelden und auch keine Gebühren zahlen müssen. Speichern Sie alle Seiten als Lesezeichen, die ihre Anforderungen erfüllen."
Niveau: schwierig.
 
Quelle: Kölnische Rundschau vom 09.10.2013

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